
Die AirPods sind ein solcher Sleeper Hit: Zunächst wurden sie kaum beachtet, bis man schließlich entdeckte, dass sie unter bestimmten Anwendern (beispielsweise Sportlern) die kabelgebundene Version vollständig verdrängt hatten. Kurze Zeit später wurden sie endgültig zu einem Massenphänomen.
Die Umsätze der AirPods können nur geschätzt werden, weil Apple sie in den Bilanzen gemeinsam als »Home, Wearables und Accessoires« listet. Zuerst war das nicht schwierig, weil man die Umsätze gut vergleichen konnte mit den Zeiten, als die AirPods noch nicht zu dieser Kategorie gehörten. Mittlerweile wurde auch die Apple Watch in dieselbe Kategorie aufgenommen, was die Sache komplizierter macht. Entsprechend kursieren im Web zahlreiche Clickbait-Artikel, die geradezu grotesk übertrieben sind. Manche von ihnen wollen weismachen, dass die AirPods fast so viel Umsatz brächten wie Tesla und doppelt so viel wie Adobe.
Aber 7 bis 9 Milliarden Dollar jährlich sind für das Jahr 2021 wahrscheinlich. Das ist ein haarsträubender Erfolg. Vor allem wenn man bedenkt, wie jung die Kategorie noch ist.
Was könnte der nächste »Sleeper Hit« werden? Nach meiner Ansicht ist es »Augmented Audio«. Das ist eine Entwicklung, die im Geschrei um irgendwelche Brillen oder Metaversen möglicherweise übersehen wird. Diese grafischen Varianten ziehen derzeit alle Aufmerksamkeit an sich, sind aber gegenüber Augmented Audio vielleicht das deutlich kleinere Segment. Ich weiß, das klingt obskur. Hier ist meine Begründung.
Zunächst muss ich darauf hinweisen, dass ein seriöser Artikel, zumal im Themenbereich Technologie, niemals eine Begründung enthalten darf, die beginnt mit: »Also, meine Tante hatte…«.
Also, meine Tante hatte damals einen guten Fernseher, aber schlechte Ohren. Entsprechend wurde die Lautstärke eingestellt. Das missfiel den Nachbarn. Folglich wurde ein Kopfhörer mit extralangem Kabel angeschafft. Dadurch schien das Problem zunächst gelöst und alle waren sehr glücklich.
Allerdings, wenn ich meine Tante besuchte, musste ich sie ab sofort beim abendlichen Fernsehgenuss anschreien. Und weil meine Tante ihre eigene Stimme nicht mehr hörte, schrie sie ihre Antworten ebenfalls. Aber meine Ohren waren ja in Ordnung. Das größte Unglück bestand jedoch darin, dass meine Tante nach Beginn der Tagesschau nicht mehr besucht werden konnte, weil sie die Klingel nicht hörte.
Ich wünschte, ich hätte meiner lieben Tante damals die AirPods spendieren können. Aber das waren die 80er-Jahre. Im Transparenz-Modus verstärken die AirPods nämlich den Ton des Fernsehers (falls er durch ein Apple TV betrieben wird), nehmen jedoch auch die Umgebungsgeräusche per Mikrofon auf und mischen beide Tonquellen zusammen.

Was zunächst als kleines Zusatz-Gimmick der AirPods erschien, könnte sich zu einem riesigen Hit entwickeln. Denn hier werden verschiedene Tonquellen erkannt, getrennt, und neu zusammengesetzt. Das Ergebnis ist absolut verblüffend: Die Umgebung bleibt hörbar wie gewohnt, lediglich der Ton des Fernsehers wird verstärkt. Meine Tante hätte mich dank dieser Technik gehört wie immer; auch ihre eigene Stimme wäre für sie hörbar gewesen. Sie hätte sich nicht so abgekapselt gefühlt.
Augmented Audio macht es möglich, spezielle Töne zu erkennen, beispielsweise Türklingeln oder das Telefon. Man könnte alle Umgebungsgeräusche ausblenden, aber solche Ausnahmen zulassen. Die Technik setzt die gewünschte Audio-Kulisse intelligent zusammen.
Schon heute kann man die AirPods in Kombination mit dem Apple TV so einstellen, dass sich der Ton des Spielfilms nicht »zwischen den Ohren« abspielt, sondern vorne. Dreht man den Kopf zur Seite, hält der Ton seine Position — genauso, wie es ohne Kopfhörer der Fall wäre. Das funktioniert so verblüffend gut, dass ich häufig die Kopfhörer abnehme, um zu prüfen, ob ich aus Versehen die Lautsprecher des Fernsehers eingeschaltet und besonders laut gedreht habe.

In einem Restaurant könnte man das allgemeine Stimmengewirr ausblenden, aber nahe Stimmen isolieren und verstärken. Apple hat eine solche Technologie bereits vorgestellt, aber sie funktioniert noch nicht optimal. Google verfügt über eine Technologie, einzelne Stimmen aus einer Gruppe zu isolieren, beispielsweise wenn in einer größeren Gruppe alle durcheinander reden. Es gelingt so gut, dass es direkt unheimlich ist. Allerdings klappt es noch nicht in Echtzeit. Doch es zeigt, wo die Reise hingeht.
In einem großen Büro könnte man den Mitarbeitern völlige Stille vorgaukeln, während die nahen Kollegen und man selbst hörbar bleibt. Wer möchte, gibt etwas Musik nach eigenem Geschmack hinzu. Bei einem Telefonat werden allerdings Musik und Kollegen wieder ausgeblendet. Dreht man den Kopf, ändert sich auch die Position der Stimmen der Kollegen entsprechend (bzw. ändern sich eben gerade nicht), sodass man vergisst, dass man Kopfhörer trägt.
Tatsächlich sitze ich gerade in meinem Heim-Büro, und die Waschmaschine (ein älteres Modell) startet den Schleudergang. Mit den AirPods Max höre ich davon allerdings nichts, sondern stattdessen leise Musik. Die AirPods Max sind in dieser Hinsicht wirklich grandios.

In einem Zoo könnte man den Besuchern des Giraffen-Reservats eine Dschungel-Atmosphäre auf die Ohren zaubern, denn viele Leute glauben, Giraffen leben im Dschungel. Dennoch könnten sich die Besucher wie gewohnt unterhalten. Sie würden auch die tatsächlichen Geräusche der Giraffen hören, und diese kämen aus der exakten Richtung.
Nun frage ich mich, wie viele Privatleute sich eine seltsame Computerbrille aufsetzen möchten, um damit in irgendeinem Metaverse zu verschwinden? Und wie viele von ihnen hätten eher Interesse an einem seltsamen Kopfhörer, mit dem sie einfach ihren gewohnten Alltag verbessern können?